Zuletzt aktualisiert am 14. November 2022 |

Der wenige Schnee und die anhaltenden Hitzewellen im Sommer haben in diesem Jahr sämtliche Rekorde der Eisschmelze pulverisiert. Über sechs Prozent des Eisvolumens der Gletscher gingen verloren. Das zeigen Untersuchungen der Expertenkommission für Kryosphärenmessnetze der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz.

Um die Massenbilanz der Gletscher zu ermitteln, führt das Schweizer Gletschermessnetzwerk (GLMAOS) jährlich zwei Messungen durch: die erste jeweils im April, um festzustellen, wie viel Schnee das Eis bedeckt hat (Akkumulation), und die zweite im September, um die Auswirkungen der Wärme zu messen (Ablation).

Die Messungen zeigen, dass die Abschmelzraten die bisherigen Rekorde aus dem Hitzesommer 2003 bei weitem übertreffen: Die Gletscher haben im Jahr 2022 rund drei Kubikkilometer Eis verloren, das sind mehr als sechs Prozent des verbleibenden Volumens. Zum Vergleich: Bislang bezeichnete man Jahre mit zwei Prozent Eisverlust als «extrem».

Grafik Abschmelzen der Gletscher zwischen 2000 und 2022
Veränderungen des Eisvolumens 2001 – 2022 in Prozent. (Grafik: GLMAOS)

Matthias Huss, Glaziologe an der ETH und Direktor des Schweizer Gletschermessnetzes «GLMAOS» sagte gegenüber dem Tages-Anzeiger, dass die Gletscher alleine im Juni innerhalb einer Woche mehr als drei Kubikkilometer Eis verloren haben. «Wir hätten alle fünf Sekunden ein olympisches Schwimmbecken füllen können», erklärte er.

«Im Juni gingen 300’000 Millionen Tonnen Schnee und Eis verloren.»

Besonders einschneidend war der Verlust für kleine Gletscher. Der Pizolgletscher SG, der Vadret dal Corvatsch GR und der Schwarzbachfirn UR sind praktisch verschwunden. Die Messungen wurden dort deshalb eingestellt.

Pizol-Gletscher
Der kümmerliche Rest des Pizolgletschers (SG)

Im Engadin und im südlichen Wallis verschwand auf 3000 Metern über Meer eine Eisschicht von vier bis sechs Metern Dicke. Das ist teils mehr als doppelt so viel wie das bisherige Maximum. Selbst an den allerhöchsten Messpunkten (z.B. dem Jungfraujoch auf 3571 m ü. M.) wurden deutliche Verluste gemessen. Der mittlere Eisdickenverlust liegt in allen Regionen bei rund drei Metern, erreicht teils gar Werte über vier Meter (z.B. Griesgletscher VS, Ghiacciaio del Basòdino TI). Die Beobachtungen zeigen, dass viele Gletscherzungen zerfallen und Felsinseln aus dem dünnen Eis inmitten des Gletschers auftauchen. Diese Prozesse beschleunigen den Zerfall weiter.

Der Gornergletscher (VS) 1930 und 2022

Sharastaub und Hitzewelle

Die Schneehöhe in den Schweizer Alpen war im Frühling so gering wie noch selten, vor allem im Süden der Schweiz. Hinzu kamen die grossen Mengen an Saharastaub zwischen März und Mai. Der verunreinigte Schnee nahm mehr Sonnenenergie auf und schmolz schneller. Damit verloren die Gletscher den schützenden Schnee bereits im Frühsommer. Die anhaltende, teils massive Hitze zwischen Mai bis Anfang September dezimierte das Gletscher-Eis zusätzlich. Bei der MeteoSchweiz-Station Jungfraujoch sank die Temperatur zwischen Juni und August an 41 Prozent aller Tage nie unter den Gefrierpunkt (durchschnittlich sind es 25 Prozent).

Die Schneedecke verschwand rund einen Monat früher als üblich.

Das Einschneien erfolgte im Winter 2021/22 für die meisten Gletscher Anfang November, was ungefähr der Norm entspricht. Allerdings verschwand die Schneedecke auf allen Höhenstufen rund einen Monat früher als üblich. Die über 80-jährige Messreihe auf dem Weissfluhjoch (GR, 2540 m) zeigte das zweitfrüheste je gemessene Ausaperungsdatum (6. Juni).

Der Tschiervagletscher (GR) 1935 und 2022

Kaum Schnee am Alpensüdhang

Der vergangene Winter brachte insgesamt sehr wenig Schnee. Besonders schneearm war es am Alpensüdhang, insbesondere im Tessin und im Simplongebiet. Unterhalb von 1600 m fiel verbreitet kaum oder gar kein Schnee. An mehreren Tessiner Messstationen wurde seit Messbeginn 1959 noch nie eine so geringe mittlere Schneehöhe gemessen. Oberhalb von 2000 m waren die mittleren Schneehöhen am Alpensüdhang nur rund halb so hoch wie normal. Am Alpennordhang und im Engadin lagen sie oberhalb von 1200 m bei 70 bis 100 Prozent der langjährigen Normwerte (1991-2020).

Schmelze sorgt für volle Stauseen

Der Rückzug der Gletscher verändert die Landschaft in der Schweiz und macht manche Alpenhänge instabiler, was auch Auswirkungen auf den Bergsport hat. Es gibt aber auch eine halbwegs positive Seite der Gletscherschmelze: So konnte in diesem Jahr das Schmelzwasser die geringen Niederschläge ausgleichen und die für die Wasserkrafterzeugung genutzten Stauseen füllen. Alleine die Eisschmelze im Juli und August hätte gemäss GLMAOS genügend Wasser geliefert, um sämtliche Stauseen der Schweizer Alpen von null aufzufüllen. Für die Schweiz, die über 60 Prozent ihres Stroms mit Wasserkraft produziert, ist dies von enormer Wichtigkeit.

In Zeiten wie diesen, wo die Energie knapp ist, ist es sicherlich ein Glücksfall, wenn die Schweizer Wasserkraft-Stauseen bereits frühzeitig mit Schmelzwasser gefüllt werden können. Allerdings funktioniert das nur so lange, wie es Gletscher gibt. Wollen wir weiterhin touristisch und für die Stromversorgung von unseren Gletschern profitieren, führt kein Weg daran vorbei, den Klimawandel und den CO2-Ausstoss mit gesellschaftlichen und politischen Massnahmen zu verringern, wie beispielsweise mit der Gletscherinitiative bzw. dem Gegenvorschlag dazu.


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