Kaum hebt irgendwo ein Rega-Heli ab oder wird ein blockierter Alpinist aus einer Wand geflogen, dauert es nicht lange, bis die Kommentarspalten überquellen. «Selber schuld!» – «Für so was riskiert man sein Leben?» – «Warum müssen Bergretter für solche Idioten ausrücken?» Die Empörung ist schnell bei der Hand. Nur: Sie geht am Bergalltag vorbei.

Wer schon einmal erlebt hat, wie strukturiert Rega-Teams oder die Alpine Rettung Schweiz (ARS) arbeiten, merkt schnell: Diese Einsätze laufen nicht spontan ab. Sie folgen einem klaren Ablauf, basieren auf Erfahrung, Technik – und vor allem: auf einer laufenden Risikobeurteilung. Wenn das Wetter zu instabil ist oder die Situation vor Ort zu gefährlich, wird nicht geflogen. Auch dann nicht, wenn jemand im Hang ausharrt. Die oberste Regel lautet: Eigenschutz geht vor.

Professionell statt heldenhaft

Das Bild vom todesmutigen Helden, der sich für fremde Fehler opfert, hält sich hartnäckig – hat aber mit der Realität wenig zu tun. Die Männer und Frauen in der Bergrettung sind keine Draufgänger, sondern Profis. Sie kennen die Grenzen, innerhalb derer sie handeln können. Entscheidungen werden nie emotional gefällt, sondern nüchtern abgewogen: Ist der Einsatz vertretbar? Gibt es Alternativen? Besteht Gefahr für die Crew?

Ein Bergretter in der Schweit steht auf einer grünen Wiese und blickt auf eine Berglandschaft.
Ist das Risiko zu hoch, rücken Bergretter nicht aus

Die Vorstellung, dass Bergretter wegen leichtsinniger Tourengänger ihr Leben riskieren müssten, verkennt genau diesen Punkt. Niemand wird zu einem Einsatz gezwungen, der nicht verantwortbar ist. Das Risiko ist vorhanden, aber es ist kalkuliert. Nicht blind akzeptiert.

Nicht alle Fehler sind gleich

Natürlich gibt es sie: Touristen mit Sneakers im Geröllfeld, Insta-Poser am ausgesetzten Grat oder Wandergruppen, die trotz Gewitterwarnung losziehen. Aber viele Einsätze betreffen Menschen, die eigentlich gut vorbereitet waren – und doch in Schwierigkeiten geraten. Ein plötzlicher Wetterumschwung, Orientierungslosigkeit, gesundheitliche Probleme oder ein falscher Entscheid am späteren Nachmittag reichen manchmal aus.

Hinzu kommt: Digitale Tools und GPS-Apps vermitteln heute oft ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, doch sie ersetzen weder Erfahrung noch das Gespür für Gelände, Wetter und Tageszeit.

Auch auf bekannten Routen kann eine vermeintlich harmlose Situation plötzlich kippen. Wer dann die Rega ruft, handelt nicht fahrlässig, sondern verantwortungsbewusst. Es gehört zur Bergrealität, dass nicht jede Tour wie geplant endet.

Eine Bergretterin hilft einer verunfallten Person.
Wer in Bergnot gerät, hat machmal einfach nur Pech

Hilfe ist kein moralischer Entscheid

Die Vorstellung, dass nur «vernünftige» Berggänger Hilfe verdient hätten, ist gefährlich. Bergrettung ist kein Belohnungssystem. Sie folgt dem Prinzip: Wer in Not ist, bekommt Unterstützung – unabhängig davon, wie er oder sie in die Situation geraten ist. Genau wie bei einem Brandopfer niemand zuerst den Beweis verlangt, dass es die Herdplatte ausgeschaltet hat, bevor die Feuerwehr kommt, wird nicht zuerst die Schuldfrage geklärt. Es wird geholfen, weil Hilfe ein Grundsatz ist.

Zwischen Urteilen und Verständnis

Wer im Trockenen sitzt, urteilt schnell. Auch ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich beim Lesen einer Unfallmeldung denke: «Wieder so ein unerfahrener Depp …» Aber ich weiss aus eigener Erfahrung: Wenn plötzlich Nebel aufzieht oder ein Steinschlag niedergeht, kippt eine Tour schneller, als man denkt. Retter helfen nicht trotz solcher Situationen – sondern genau deshalb.


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