Ihr Vater ist Hüttenwirt, Bergsteiger und war Mitglied der italienischen Nationalmannschaft der Skibergsteiger. Sie war ebenfalls in der Skibergsteiger-Nationalmannschaft und stand als jüngste Frau auf dem Gipfel des 8516 Meter hohen Lhotse. Die Rede ist von der Südtiroler Bergsteigerin Tamara Lunger. Im Gespräch mit Bergwelt erzählt sie, was sie motiviert und wohin es sie zieht.

Tamara, deine Besteigung des Lhotse 2010 lief ja nicht ganz ohne Probleme – zumindest zu Beginn.
Ja, das stimmt. Der Sherpa, der mich ursprünglich begleiten sollte, wurde plötzlich krank. Wir haben dennoch versucht, von Lager 3 aus aufzusteigen, aber nach drei Stunden mussten wir die Übung abbrechen, der Sherpa war zu krank. Dazu kam, dass wir auf dem Weg auch noch einen toten Russen gesehen haben, der bei einem früheren Aufstiegsversuch ums Leben kam. Das war eine krasse Situation. Wir sind dann wieder abgestiegen und im Camp hat der Sherpa beschlossen, mich bei meinen nächsten Versuchen nicht mehr zu begleiten.

Bist du dann ohne Sherpa los?
Ursprünglich wollte ich das eigentlich. Doch mein Kollege Simone Moro meinte, dass es besser sei in Begleitung eines Sherpas, weil man nie wissen könne, was am Berg passiert und wie mein Körper in dieser Höhe funktioniert. Zum Glück war im Lager noch ein zweiter Sherpa. Er war ein Jahr älter als ich und voll motiviert, mit mir den Aufstieg in Angriff zu nehmen. Bereits kurz nachdem wir das Lager verlassen hatten spürte ich, dass es mit ihm klappen würde. Und schlussendlich war das auch so.

«Die Seele kam zum Glück immer wieder zurück in meinen Körper und wir konnten ohne grössere Probleme ins Camp 2 absteigen.»

Noch etwas intensiver als der Aufstieg war für dich der Abstieg vom Lhotse. Warum?
Ich war ziemlich dehydriert, dazu kamen natürlich die Anstrengung und die Höhe. Zudem hatte ich in den Tagen vor dem Aufstieg wegen der Aufregung etwas wenig geschlafen. Beim Abstieg fühlte es sich zeitweise so an, als ob meine Seele den Körper verlässt und mir von aussen bei der Arbeit zuschaut. Ich habe nichts mehr gespürt, was allerdings sehr angenehm war. Die Seele kam zum Glück aber immer wieder zurück in meinen Körper und wir konnten ohne grössere Probleme ins Camp 2 absteigen. Leider ging uns dort aber das Gas aus, weshalb ich mich mit Schnee begnügen musste, um meinen Durst zu löschen. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, gab es über Nacht einen halben Meter Neuschnee. Mein Sherpa befürchtete zuerst, dass wir deswegen nicht ins Basiscamp absteigen könnten. Es hat dann aber doch geklappt.

Unten angekommen trafen wir als erstes auf Leute, die auf andere Bergsteiger warteten. Die standen dort mit grossen Plakaten und Unmengen an Getränken. Die erste Cola ging weg wie nichts. Sie sagten, ich sähe aus, als ob ich ziemlichen Durst hätte. Ich muss ausgesehen haben, wie kurz vor dem Ende (lacht).

Ueli Steck hat einmal gesagt, dass, sobald er jeweils wieder unten angekommen ist, er nicht mehr an die Strapazen, Probleme oder Gefahren während einer Expedition denkt und sich innerlich bereits auf das nächste Projekt vorbereitet. Ist das bei dir auch so? Auch nach den Strapazen am Lhotse?
Ja. Trotz allem habe ich damals bereits im Basislager des Lhotse beschlossen, als nächstes den Cho Oyu (8188 m) zu besteigen. Aber mein allererster Gedanke war, dass ich eigentlich gar nicht richtig stolz auf mich sein kann, weil ich beim Aufstieg auf 8100 Meter Sauerstoff eingesetzt habe. Das war ein innerlicher Kampf. Eigentlich wollte ich den Lhotse ohne zusätzlichen Sauerstoff besteigen. Ich wusste aber nicht, wie mein Körper reagieren würde, hatte zudem sehr kalt und Angst vor Erfrierungen an den Zehen. Und weil ich nicht ohne Zehen nach Hause kommen wollte, habe ich mich für den Sauerstoff entschieden. Zwei Tage lang habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen. Ich kam dann aber zum Schluss, dass das als erste Erfahrung schon passt. Seit 2010 habe ich aber nie wieder zusätzlichen Sauerstoff eingesetzt.

«Weil ich nicht ohne Zehen nach Hause kommen wollte, habe ich mich für den Sauerstoff entschieden.»

Du bist nicht nur die jüngste Frau, die den Lhotse bestiegen hat, sondern auch die erste Südtirolerin, die auf dem Gipfel des K2 stand. Der K2 ist mit 8611 Metern der zweithöchste Berg der Welt und gilt als schwierigster Achttausender überhaupt. Wie hast du dich auf diese Expedition vorbereitet, damit dir am Gipfel nicht die Luft ausgeht?
Ich bereite mich eigentlich nie speziell vor. Als Training fahre ich regelmässig Tag Rad, klettere und laufe. Unterdessen weiss ich auch, dass mein Körper in der Höhe ganz gut funktioniert. Ich kann auch relativ viel tragen. Wenn ich zuhause starte und weiss, dass alles passt, dann läuft das in der Regel auch vor Ort gut.

War das auch bei der K2-Expedition so?
Nicht ganz. Zu Beginn hatte ich gesundheitliche Probleme: Eine Achillessehnenentzündung und eine Allergie, die mein Gesicht anschwellen liess und ich hatte Juckreiz an den Händen und Füssen. Keine Ahnung, was das war. Aber vor lauter kratzen konnte ich zeitweise kaum schlafen. Ich habe mir dann immer wieder gesagt, dass ich das schaffen würde und ich hier sei, um den Berg zu besteigen. Auch psychisch waren die gesundheitlichen Probleme nicht ganz so einfach zu bewältigen. Zuhause geht man ja einfach zum Arzt und holt sich eine Salbe oder eine Tablette. Aber auf 5100 Meter ist das etwas schwieriger. Um den Juckreiz loszuwerden habe ich Bäder mit Milchpulver gemacht und mich dick mit Creme eingeschmiert.

Nach etwa einem Monat hat sich das Ganze zum Glück wieder gelegt und ich war bereit für den Aufstieg. Ich habe mich riesig gefreut, war positiv eingestellt und sicher, dass es klappen würde. Ich war wie ein kleines Kind, das auf das Christkind wartet und die Nächte zählt, die es noch schlafen muss, bis es soweit ist.

Expeditionen in dieser Höhe sind sowohl psychisch als auch physisch belastend. Wie erholst du dich jeweils von solchen Strapazen?
Ich brauche selten eine lange Erholungszeit. Nach dem K2 habe ich nach zwei Tagen Pause bereits mit dem Training für den Transalpine-Run angefangen. Beim ersten Lauftraining habe ich mir allerdings einen dermassen starken Muskelkater eingefangen, dass ich dachte, ich könne nie wieder aufstehen, wenn ich mich irgendwo hinsetzen würde.

«Nach dem K2 habe ich nach zwei Tagen Pause bereits mit dem Training für den Transalpine-Run angefangen.»

Ich wollte den Wettkampf unbedingt gewinnen und bin entsprechend eingestiegen und habe jeden Tag gekämpft. Nachdem ich die erste Etappe gewonnen hatte war ich mir sicher, dass wir den Rest ebenfalls gewinnen müssen, bzw. können – und so war es ja dann auch. Die letzten Tage des Runs waren allerdings die Hölle, weil mir mein Po so weh getan hat. Wie sich später herausstellte, waren meine Muskeln trotz des vielen Trainings nicht gut genug auf die Stossbewegungen während des Laufens vorbereitet. Im Ziel angekommen, konnte ich deshalb keinen Schritt mehr machen.

Nachdem du nun bereits den viert- und zweithöchsten Berg der Welt bestiegen hast, fehlt eigentlich nur noch der höchste. Wann stehst du auf dem Gipfel des Mount Everest?
Das fragen mich viele. Ich glaube aber, dass ich den Everest nie besteigen werde. Ich habe 2010 gesehen, wie es dort zu und her geht. Menschenmassen, Casino – sowas brauche ich überhaupt nicht. Ich suche die Einsamkeit in den Bergen. Es ist viel schöner, wenn man es aus eigener Kraft schafft, ohne andere Leute, die einen vielleicht auch noch beeinflussen. Grundsätzlich bin ich anderen Bergsteigern gegenüber aber tolerant. Jeder darf für sich selber entscheiden, wie er den Berg besteigen will.

Für mich sind die Berge ein Spielplatz, wo ich meine Freiheit ausleben kann und mir nicht vorschreiben lassen will, wie ich auf die Gipfel komme. Und deshalb will auch ich anderen diesbezüglich nichts vorschreiben. Und ich muss ja nicht dorthin, wo alle anderen sind. Es gibt so viele schöne und einsame Gipfel – es hat genug Platz für alle. Auf dem K2 war ich aber schon sehr zufrieden und stolz, als neben mir alle mit Sauerstoffmasken herumstanden und ich es ohne geschafft hatte.

»Für mich sind die Berge ein Spielplatz, wo ich meine Freiheit ausleben kann.»

Wenn es also nicht der Everest sein wird, wohin zieht es dich in der nächsten Zeit?
Ich will in den kommenden Monaten den Nanga Parbat (8126 m) in Angriff nehmen, der im Winter noch nie bestiegen wurde. Ich habe zwar immer Probleme mit der Kälte, freue mich aber dennoch schon riesig darauf. Ich bin gespannt, wie ich das meistern werde.

Viele Extrembergsteiger machen Touren und Expeditionen, die ihnen von ihren Sponsoren vorgegeben wurden. Solche Touren sind dann zwar meist sehr spektakulär, aber oft eben auch ziemlich riskant oder extrem anstrengend, wie beispielsweise die 82 Summits Tour von Ueli Steck. Wie ist das bei dir?
Ich glaube nicht, dass Ueli die 82 Summits für seine Sponsoren machen musste. Ansonsten wäre das nicht in Ordnung. Ich mache nur, was ich will. Ich will deshalb auch nur Sponsoren, die mich schätzen – und zwar als Person und nicht weil man gewisse Gipfel besteigt. Ich würde nie einen Vertrag unterschreiben, in dem ich zu gewissen Sachen verpflichtet werde oder ich mehr Geld bekomme, wenn ich einen bestimmten Gipfel besteige. Ich will mich von sowas nicht beeinflussen lassen. Druck ist bei mir etwas, was ich nicht brauchen kann und mich meistens versagen lässt. Bergsteigen soll Leidenschaft, Freiheit und Passion sein – und das will ich nie verlieren.

Die Strapazen haben sich gelohnt: Tamara Lunger auf dem Gipfel des K2 (Bild: zVg)

Tamara Lunger an der E.O.F.T 15/16

Auf der aktuellen European Outdoor Film Tour dreht sich alles um die jungen Wilden. Zu sehen gibt es dabei unter dem Titel “Gipfel der Gefühle: eine Südtirolerin am K2” auch ein Portrait über Tamara Lunger. Mehr über Tamara und ihre Expeditionen erfahrt ihr auf ihrer Homepage.

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